Wie bereits im Artikel Warum wir der Welt ständig Geschlechter verleihen dargelegt, ist die menschliche Wahrnehmung kein passiver Prozess. Während dort die grundlegenden kognitiven Mechanismen untersucht wurden, die uns dazu bringen, der Welt Geschlechter zuzuschreiben, wollen wir uns nun dem spezifischen Medium zuwenden, durch das diese Kategorisierung ihre tiefste Prägung erfährt: der Sprache. Sie ist nicht nur Werkzeug unserer Gedanken, sondern formt diese in fundamentaler Weise.
Inhaltsverzeichnis
1. Die untrennbare Verbindung zwischen Sprache und Wahrnehmung
a) Wie sprachliche Kategorien unsere gedanklichen Schubladen formen
Die Sprache strukturiert unsere Wirklichkeit nicht nur nachträglich, sie legt die Schienen, auf denen unsere Gedanken verlaufen. Bereits im Kindesalter lernen wir durch sprachliche Kategorien, die Welt in bestimmte Muster einzuteilen. Ein deutschsprachiges Kind, das zwischen “der”, “die” und “das” unterscheidet, entwickelt unbewusst ein anderes Wahrnehmungsraster als ein finnisches Kind, dessen Sprache keine grammatikalischen Geschlechter kennt.
Die Forschung von Lera Boroditsky an der Universität Stanford demonstrierte eindrücklich, wie Sprachstrukturen unser Denken beeinflussen. In einem Experiment wurden deutschen und spanischen Muttersprachlern dieselben Objekte mit unterschiedlichem grammatikalischem Geschlecht in ihrer jeweiligen Sprache präsentiert. Die Ergebnisse zeigten, dass die Probanden den Objekten Eigenschaften zuschrieben, die kulturell mit dem jeweiligen Genus assoziiert werden.
b) Der Unterschied zwischen biologischen Gegebenheiten und sprachlichen Konstrukten
Es ist entscheidend, zwischen biologischen Tatsachen und sprachlichen Konstrukten zu unterscheiden. Während das biologische Geschlecht (Sex) auf chromosomalen und hormonellen Faktoren basiert, handelt es sich beim grammatikalischen Geschlecht (Genus) um ein rein sprachliches Phänomen. Diese Unterscheidung wird besonders deutlich, wenn man betrachtet, wie unterschiedlich verschiedene Sprachen mit derselben Realität umgehen:
| Objekt | Deutsch | Spanisch | Russisch |
|---|---|---|---|
| Brücke | die Brücke (f) | el puente (m) | мост (m) |
| Sonne | die Sonne (f) | el sol (m) | солнце (n) |
| Mond | der Mond (m) | la luna (f) | луна (f) |
2. Grammatische Geschlechter im Deutschen: Ein unsichtbarer Filter
a) Der psychologische Einfluss des Genus auf unsere Assoziationen
Das grammatikalische Geschlecht im Deutschen wirkt wie ein permanenter kognitiver Filter. In einer Studie des Max-Planck-Instituts für Psycholinguistik wurden deutschsprachigen Probanden fiktive Personenname mit Artikeln präsentiert (“der Andrea”, “die Kim”). Obwohl die Namen selbst geschlechtsneutral waren, beeinflusste der grammatikalische Artikel signifikant die zugeschriebenen Eigenschaften und sogar das erinnerte Aussehen der Personen.
Diese unbewusste Prägung zeigt sich auch in Alltagssituationen. So beschreiben Muttersprachler “die Brücke” (feminin) häufiger als “elegant” und “graziös”, während “der Schlüssel” (maskulin) als “hart” und “robust” charakterisiert wird – obwohl diese Eigenschaften nichts mit der tatsächlichen Funktion der Gegenstände zu tun haben.
b) Warum “der Mond” und “die Sonne” mehr sind als nur Artikel
Die Zuordnung von “der Mond” (maskulin) und “die Sonne” (feminin) im Deutschen hat tiefgreifende kulturelle und psychologische Konsequenzen. In der deutschen Dichtung und Folklore wird der Mond traditionell mit Männlichkeit assoziiert – kühl, rational, nachtaktiv. Die Sonne hingegen erscheint als lebensspendende, wärmende feminine Kraft. Diese sprachliche Prägung beeinflusst unser metaphorisches Denken und schafft unbewusste Assoziationsketten, die weit über die reine Benennung hinausgehen.
“Die Grammatik ist die Seele einer Sprache, ihr innerstes Wesen. Wer die Grammatik beherrscht, beherrscht nicht nur die Sprache, sondern auch die Denkweise, die sie transportiert.”
3. Sprachbilder und Metaphern: Die versteckte Vermittlung von Geschlechterrollen
a) Wie Redewendungen traditionelle Vorstellungen zementieren
Sprachbilder und Redewendungen wirken besonders nachhaltig, weil sie oft unbewusst aufgenommen werden und scheinbar “natürlich” erscheinen. Betrachten wir folgende deutsche Ausdrücke:
- “Mann muss tun, was ein Mann tun muss” – vermittelt traditionelle Männlichkeitsvorstellungen
- “Das ist nichts für zarte Frauenhände” – reproduziert Geschlechterstereotype
- “Sie weinte wie ein Mädchen” – assoziiert Weiblichkeit mit Emotionalität
Diese Formulierungen wirken wie Trojanische Pferde – sie schleichen traditionelle Geschlechterbilder in unseren Sprachgebrauch ein, ohne dass wir uns dessen bewusst sind.
b) Die Macht der unbewussten sprachlichen Prägungen
Die Wirkung sprachlicher Prägungen zeigt sich besonders deutlich in Bereichen, die historisch mit einem bestimmten Geschlecht assoziiert waren. Eine Studie der Universität Leipzig untersuchte, wie Berufsbezeichnungen wahrgenommen werden. Die Verwendung generischer Maskulinformen (“Ärzte” für männliche und weibliche Mediziner) führte dazu, dass Probanden sich signifikant häufiger Männer vorstellten – selbst wenn der Kontext geschlechtsneutral war.
4. Geschlechtsneutraler Sprachgebrauch: Revolution oder natürliche Entwicklung?
a) Empirische Befunde zu den Auswirkungen geschlechtergerechter Sprache
Die wissenschaftliche Forschung liefert zunehmend Belege für die Wirksamkeit geschlechtergerechter Sprache. Eine Metastudie der Humboldt-Universität Berlin fasste Ergebnisse aus über 50 Einzelstudien zusammen und kam zu folgenden Ergebnissen:
